Nicolas Moll

Trans-European Research and Cooperation

Als nach den Charlie Hebdo-Morden sehr schnell die Parole “Je suis Charlie” auftauchte und zum zentralen Slogan auf sozialen Netzwerken und im öffentlichen Raum wurde, fand ich das einerseits gut und nachvollziehbar: Es ist eine einfache und klare Geste, Solidarität zu bekunden, und um gerade durch die Masse der “Je suis Charlie”-Verbreitung zu demonstrieren, wie viele “wir” sind und sich als geeint zeigen wollen, um sich durch Terror nicht einschüchtern zu lassen. Andererseits verspürte ich nicht das Bedürfnis, mich selbst mit “Je suis Charlie” zu plakatieren, was vielleicht mit einem instinktiven Abwehrreflex gegen Massentrends und die Facebook-Slogan-Manie zu tun hat, wo mitunter ein Slogan und ein Foto ernsthafteres politisches Engagement ersetzt. Ich denke ich kann meine Solidarität, meine Meinung und meine Fragen nach den CharlieHebdo-Morden auch in anderer Weise kundtun. Dennoch finde ich es gut, dass es diese Parole gibt und dass viele sie benutzen, Gründe siehe oben.
So schnell wie die Parole “Je suis Charlie” auftauchte und sich verbreitete, so schnell tauchten auch kritische Auseinandersetzungen mit bzw. Distanzierungen von diesem Slogan auf, die ihren Ausdruck in der Formel “Je ne suis pas Charlie” fanden. Wobei es hier unterschiedliche Tendenzen gibt. Die einen finden den “Je suis Charlie”-Satz heuchlerisch: Denn wir hätten ja alle gar nicht den Mut, für die Freiheit zu sterben. Andere haben Probleme, weil sich auch Pegida-Anhänger oder die BILD-Zeitung des “Je suis Charlie”-Slogans bemächtigten. Und dann gibt es noch den Trend, den “Je ne suis pas Charlie”-Slogan ganz explizit auf sich selbst zu beziehen. In der Regel mit der Begründung, dass man sich nicht mit den Karikaturen von CharlieHebdo identifizieren möchte, die man als rassistisch oder einfach nur geschmacklos ansieht. Das ist eine Meinung, die ich respektiere, aber das Bedürfnis, mich durch “Je ne suis pas Charlie” von “Je suis Charlie zu distanzieren” verspüre ich nicht. Gründe siehe oben.
Dann tauchte sehr schnell eine dritte Slogan-Bewegung auf: “Je suis Ahmed”. Das bezog sich auf einen der Polizisten, der von den Terroristen erschossen wurde. Das fand ich bemerkenswert. Offensichtlich ein Vermittlungsangebot, irgendwo zwischen “Ich bin Charlie” und “Ich bin nicht Charlie”, irgendwie ist man Charlie, aber eben doch auch nicht ganz. Das erlaubte offensichtlich vielen, die mit Charlie Hebdo selbst oder mit der “Je suis Charlie”-Bewegung ein Problem haben, dennoch ihre Solidarität zu zeigen, und gleichzeitig aufgrund der (vermeintlich) muslimischen Identität von Ahmed Merabet ein Zeichen zu setzen gegen Kollektiv-Beschuldigungen gegen Muslime. Beides kommt in dem oft reproduzierten Zusatz zum Ausdruck: “I am not Charlie, I am Ahmed the dead cop. Charlie ridiculed my faith and culture and I died defending his right to do so.” Wobei auch interessant ist, dass die Wahl auf den getöteten Polizisten fiel und nicht auf Mustapha Ourrad, einer der zehn getöteten Mitarbeiter von Charlie Hebdo, den man ja auch mit einem muslimischen Hintergrund assoziieren kann. Aber “Je suis Mustapha” zu sagen hätte nicht erlaubt, sich gleichzeitig vom Inhalt von CharlieHebdo zu distanzieren. Und mit “I am Ahmed” liess sich auch der Bezug zu Voltaires (angeblichem) Meinungsfreiheit-Zitat (“I disagree with what you say, but I will defend to the death your right to say it”) herstellen und offensichtlich auch leichter eine heldenhafte Figur konstruieren. (Das kann ich zwar nachvollziehen, doch finde ich generell die Heroisierung der Opfer problematisch, nicht nur im Hinblick auf Ahmed Merabet, sondern auch der Journalisten. Cabu, Wolinksi und die anderen als “Märtyrer der Freiheit” oder “Soldaten der Pressefreiheit”? Hilfe! Ich denke, Cabu und Wolinksi hätten sich wohl als erste gegen diese Sakralisierung und Militarisierung ihrer Personen gewehrt.)
Schliesslich entwickelte sich dann noch innerhalb von zwei Tagen eine vierte Slogan-Bewegung, deren Vertreter sich weder mit Charlie noch mit Nicht-Charlie noch mit Ahmed identifizieren, sondern nur mit der individuellen Identität der schreibenden Person selbst. Der bekannteste, vielfach weiterverbreitete Slogan in dieser Rubrik ist “JeSuisDalia”, von Dalia Mogahed, Forschungsdirektorin am “Institute for Social Policy and Understanding” in Washington. Ihr auf facebook veröffentlichter Post lautet: “JeSuisDalia. I represent a community of exactly one. I answer for the crimes of exactly one person. I apologize for the actions of exactly one woman. I know the motives of exactly one individual. If for no other reason besides my faith and ethnicity you suspect me so much as to require me to prove to you that mass murder offends me–then it is you who owes me an apology.” Dieser Post hat gewisse Gemeinsamkeiten mit “JeSuisAhmed”, in dem Sinne dass er sich gegen Generalverdachts-Tendenzen und Distanzierungs-Forderungen gegenüber Muslimen richtet. Gleichzeitig lenkt er nicht mehr den Blick auf die Opfer, sondern auf die Individuen, die jetzt mit den Konsequenzen des Anschlags zu leben haben. – Neben “Je suis Dalia” habe ich auch andere Posts gesehen, die die eigene Individualität in den Vordergund stellen, nicht unbedingt um antimuslimische Kollektivbeschuldigungen zu kritisieren, sondern eher um ihr Unbehagen gegenüber diesen kollektiven “Je suis…”-Bekenntiswellen zum Ausdruck zu bringen. Wie ein Freund, Matthias, gestern auf facebook schrieb: “Je suis… Matthias; d.h.: jetzt auch mehrfach traurig, & das ist auch gut, so.”
“Ich bin Charlie.” “Ich bin nicht Charlie.” “Ich bin Ahmed.” “Ich bin Dalia.” “Ich bin ich.” Das Ganze hat schon erstaunliche Formen angenommen. Nicht nur die reine Quantität an Bekenntnis-Slogans, und wie sehr sie den halböffentlichen und öffentlichen Raum besetzen. Auch die Vehemenz mit der die damit verbundenen Meinungen teilweise vertreten werden. Wie eine Freundin, Martina, gestern schrieb: “Apparently, only 2 categories of people left. The ‪#‎Charlies‬ and the ‪#‎NotCharlies‬. Will they take up arms against each other now?” Wobei die Vehemenz dieses Slogan-Kampfes sich sicherlich auch dadurch erklärt, dass hier unterschiedliche Priorisierungen aufeinanderprallen. “Je suis Charlie” legt den Wert auf das Universelle, « Je suis Ahmed” auf das Partikulare, « Je suis Dalia » bzw. « Je suis moi » auf das Individuelle. Das Universelle, das Partikulare, oder das Individuelle – muss ich mich für eines der drei Prinzipen entscheiden ? Natürlich nicht, denn die drei gehören zusammen, und das grösste Problem wäre einem der drei Prinzipien ein Exklusivitätsrecht zu geben. Muss ich mich zu einem der vielen “Je suis…”-Slogans öffentlich bekennen? Muss ich auch nicht. Wobei ich für gewisse Slogans durchaus mehr Vorlieben haben kann als für andere, und manche für problematischer als andere ansehe. Doch das hängt auch ganz wesentlich von der konkreten Benutzung ab, denn derselbe Slogan kann ja von mehreren Personen in ganz verschiedener Weise verstanden und genutzt werden.
Es bleibt eine gewisse Verwunderung für die Anziehungskraft solcher Slogans. Auch wenn man sie freilich psychologisch und soziologisch erklären kann und sie gesellschaftspolitische Funktionen erfüllen. Sehr sinnvoll fände ich auch, die historische Entwicklung solcher “Ich bin…”-Slogans zu rekonstruieren, als Form einer solidarischen Identifizierung mit Angegriffenen und Opfern, und wie diese Form in der Geschichte gesellschaftspolitischer Mobilisierungen einzuordnen ist. Wenn ich an die Geschichte zurückdenke, fällt mir als erstes ein der Slogan “Nous sommes tous des Juifs allemands” (“Wir sind alle deutsche Juden”), der 1968 in Frankreich skandiert wurde, nachdem Daniel Cohn-Bendit von Gegnern der Studentenbewegung im Hinblick auf seine “ausländischen” Ursprünge angegriffen wurde. Wobei natürlich auffällt, dass es damals hiess “Nous sommes tous des Juifs allemands”, und nicht “Je suis Daniel Cohn-Bendit”. “Wir”, nicht “Ich”, “deutsche Juden”, nicht “Daniel Cohn-Bendit”: Wann und unter welchem Umständen wurde aus dem “Wir” ein “Ich”?